Dr. Hansjörg Mühlen & Dr. Andreas Lueg
Digitalisierung in der Arztpraxis
Die Zunahme des Diabetes mellitus erzeugt ein vitales Interesse aller Beteiligten im Gesundheitswesen, die ärztlichen Ressourcen effektiv zu nutzen. Am Beispiel Digitalisierung in der diabetologischen Schwerpunktpraxis werden klare Ziele formuliert – und: Die Digitalisierung darf nicht mehr Arbeitszeit verbrauchen, sondern muss diese schonen.
„Digitalisierung in der Arztpraxis“ ist ein Schlagwort, das aktuell aus den täglichen Presse- und Verbandsartikeln nicht wegzudenken ist. Täglich werden unter dem Begriff Digitalisierung die verschiedensten Themen diskutiert. Daher muss der Begriff „Digitalisierung“, insbesondere im Kontext der Arztpraxis, definiert und klar umrissen werden.
Daten systematisch erfassen und auswertbar speichern
Die digitale Datenerfassung geht über die elektronische Datenerfassung hinaus: Bei ihr werden die Daten systematisch erfasst und auswertbar in Datenbanken gespeichert. Sie stehen damit für eine wissenschaftliche Auswertung zur Verfügung, die dringend notwendig ist, um mehr Daten aus der Versorgungsforschung in die medizinische Evidenz einzubringen.
„Digitalisierung“ in der Arztpraxis: aktueller Stand
Die heutigen Praxisverwaltungssysteme (PVS) haben ihren Schwerpunkt im Bereich der Abrechnung gegenüber der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) bzw. den Krankenkassen (KK). Aber selbst die hierfür notwendigen Daten wie Patientenstammdaten mit Versicherungsdaten, Diagnosen und Abrechnungsziffern werden nicht vollständig digital erfasst und übermittelt, da die Abrechnungsdatei eine standardisierte Textdatei ist.
Diese Standardisierung der Abrechnungsdatei nutzt das Projekt „ICDiab“ von winDiab (Wissenschaftliches Institut der niedergelassenen Diabetologen) sowie dem Bundesverband Niedergelassener Diabetologen (BVND), um den diabetologischen Schwerpunktpraxen (DSPen) eine diabetesspezifische Auswertung ihrer individuellen Diagnosestruktur im Vergleich zu den anderen anonymen Teilnehmern zu bieten. Dieses Benchmarking bietet einen wertvollen Beitrag zum Praxiscontrolling. Die Dokumentation der gesamten eigenen Behandlungsdaten erfolgt dabei individuell nur als Freitext. In vielen Praxen werden darüber hinaus auch Fremdbefunde und Arztbriefe eingescannt und als PDF-Datei oder in einem anderen Grafikformat elektronisch verwaltet. Nicht selten finden aber auch PVS-spezifische Formate Anwendung.
Trotz einer weiten Verbreitung und Nutzung von PVS und elektronischer Datenverarbeitung sind das Gesundheitswesen und die Arztpraxen von einer echten Digitalisierung weit entfernt.
Trotz einer weiten Verbreitung und Nutzung von PVS und elektronischer Datenverarbeitung sind das Gesundheitswesen und die Arztpraxen von einer echten Digitalisierung weit entfernt.
Aktueller Stand der Digitalisierung in den diabetologischen Schwerpunktpraxen
Auch die DSPen sind durch den Funktionsumfang der PVS limitiert. Der Markt für PVS ist sehr groß und unübersichtlich. Hier über die jeweiligen Vor- und Nachteile zu diskutieren, würde den Umfang sprengen. Gemeinsam ist allen Programmen, dass (bis auf die mehr oder weniger gelungene Integration der DMP-Dokumentation) keine diabetesspezifischen Module vorhanden sind. Daher werden in den meisten DSPen viele weitere Programme eingesetzt, um diese Lücke zu schließen. Hier sind vor allem zu nennen die Programme zum Auslesen und Erfassen von Glukose-Messsystemen (Blutzucker, FGM/iscCGM, rtCGM), Blutdruckmessgeräten, Schrittzählern, Insulinpumpen und Smartpens. Aber auch Programme zur Unterstützung der Praxisorganisation und des Qualitätsmanagements kommen zum Einsatz. Eine Übersicht mit Funktionsumfang und den jeweiligen Vor- und Nachteilen der jeweiligen Programme ist in Arbeit.
Stärken und Schwächen
Es gibt bei allen Programmen Stärken und Schwächen bzgl. der Marktabdeckung der auslesbaren Geräte, der Praktikabilität beim Auslesen der Geräte, des Funktionsumfangs bei der Datenanalyse und der Art der Darstellung. Teilweise werden Geräte ohne die unternehmenseigene Software ausgelesen, teilweise werden nur die exportierten Daten aus der unternehmensspezifischen Originalsoftware eingelesen. Ebenso unterscheiden sich der Service der Unternehmen (z. B. Hilfe bei der Installation und Anpassung an die Praxissoftware) und der Preis für Lizenzen, Updates und Softwarepflege erheblich. Zudem gibt es viele Eigenentwicklungen bei Apps und Programmen durch Praxen, Institute, Unternehmen und Verbände, die meist leider nur lokal zur Verfügung stehen.
Interoperabilität und Interkonnektivität
Trotz des „Code of Conduct Digital Health“ der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) herrschen weiterhin unternehmensspezifische Schnittstellen und Datenformate vor, was die Funktion unternehmensübergreifender Programme stark behindert und bei einzelnen Geräten unmöglich macht. Teilweise werden auch von den Anbietern der „unternehmensübergreifenden“ Programme einzelne Hersteller ausgeschlossen.
Die unternehmenseigenen Lösungen erschweren damit die Arbeit in der Praxis erheblich, da für jedes Unternehmen eine eigene Software installiert und eingesetzt werden muss. Dies führt zu einer unübersichtlichen Datenhaltung und verursacht erheblichen Schulungsbedarf für das Diabetesteam. Einige Praxen haben daher ihr Portfolio der empfohlenen und verordneten Geräte stark eingeschränkt. Das Offenlegen der Schnittstellen und damit die Möglichkeit, Software zu entwickeln, die alle verfügbaren Systeme auslesen kann, ist eine dringende Notwendigkeit.
Unternehmenseigene Lösungen erschweren die Arbeit in der Praxis erheblich; für jedes Unternehmen muss eine eigene Software installiert und eingesetzt werden.
Ein weiteres erhebliches Problem bei der Implementation moderner Software zum Verbessern und Effektivieren der Praxisabläufe, zur Diagnosestellung, zur Therapiefindung etc. ist deren fehlende Interoperabilität. Die Anbindung an das PVS ist nicht vollständig, so dass die Behandlungsdaten fraktioniert in verschiedenen Programmen hinterlegt sind. Damit wird die integrative Behandlungsführung erschwert und unnütze Zeit für den Zugang zu den Daten verschwendet.
Hardware-Ausstattung der Praxen
Die Hardware-Ausstattung in den Praxen ist sehr unterschiedlich. Insgesamt kann man aber von einem erheblichen Investitionsstau ausgehen. Die Nutzung aktueller Hardware und Betriebssysteme ist eine wichtige Grundlage für die Weiterentwicklung der Praxis in Richtung Digitalisierung. Die Modernisierung der Hardware ist in der Regel auch mit kostenintensiven Software-Updates verbunden, da meist die vorhandene Software nicht mehr mit den neuen Betriebssystemen kompatibel ist.
Datenauswertung und -management
Die deutlich zunehmende Datenflut, mit der sich das Diabetesteam konfrontiert sieht, stellt die Diabetesteams in den DSPen vor große Herausforderungen. In früheren Zeiten wurden die Blutzuckerhefte der Patienten zur Beurteilung der Diabetesbehandlung genutzt. Die darin erfassten Blutzuckerwerte waren überschaubar. Mit den heute aktuellen Glukosemesssystemen, wie dem „Flash Glucose Monitoring“ (FGM)/dem „intermittent scanning Glucose Monitoring“ (iscCGM) oder dem „realtime Continuous Glucose Monitoring“ (rtCGM), hat sich die Datenmenge drastisch vermehrt, insbesondere wegen der deutlich zugenommenen Verbreitung vor allem des FGM/iscCGM. Der Aufwand für die Praxen steigt damit gewaltig. Nur über die Anschaffung einer Auslese-Software ist der Zugang zu den Daten und deren Auswertung sinnvoll möglich und zeitlich überhaupt realisierbar. Aus unserer Sicht ist die Auslesesoftware integraler Bestandteil des jeweiligen Devices, deren Kosten durch den Kaufpreis der KK abgedeckt sind, so dass die DSPen einen für sie kostenlosen Zugang zur Software bekommen müssten. Nur so ist ein Zugriff auf die Daten möglich, der ein solches Medizinprodukt erst sinnvoll nutzbar macht.
Datenschutz und Datensicherheit
Seit Mai 2018 ist der Datenschutz in aller Munde; trotz aller Aufklärung herrscht große Verunsicherung. Trotz der Regelungen der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) gibt es noch immer offene Fragen bezüglich der Regelungen des Datenschutzes in der Praxis. Es sind noch viele Fragen offen. Der Anteil an cloud- oder webbasierten Programmen wird steigen, insbesondere, da immer mehr Daten über Apps gesammelt werden, auch von diabetologischen Devices.
Insgesamt kann man bei der Hardware-Ausstattung in den Praxen von einem erheblichen Investitionsstau ausgehen.
Schon heute sind Updates, z. B. der Betriebssysteme und Virenscanner, ohne Internetzugang kaum mehr zu bekommen. Ohne Internetzugang werden wir mittelfristig nicht mehr arbeitsfähig sein. Wahrscheinlich ist eine professionelle cloudbasierte Datensicherung unserer Systeme sicherer als ein Sicherungsband, das wir mit nach Hause nehmen.
Die Zukunft werden sogar eher webbasierte Praxissysteme sein, so dass eine lokale Speicherung der Daten nicht mehr vorkommt. In welche Hardware und in welches System soll man investieren? Diese Fragen sind noch nicht abschließend geklärt und führen bei vielen Ärzten zu einem abwartenden Verhalten, was aber die Entwicklung der Digitalisierung im Gesundheitswesen und in der Praxis massiv behindert.
Quo vadis Digitalisierung in der Diabetologie?
Für digitale Anwendungen sollten alle relevanten Daten des Patienten möglichst standardisiert erfasst werden. Die ärztliche Tätigkeit ist schon immer „personalisierte“ Medizin in Reinkultur. Im besten Sinne der evidenzbasierten Medizin nach Sackett werden bestmögliche externe Evidenz und die individuelle klinische Expertise des Arztes für den Patienten zusammengeführt und interpretiert.
Leider ist die externe Evidenz in Form von Studien limitiert, da deren Ergebnisse sich nur auf die Gruppe der Patienten mit den definierten Einschlusskriterien beziehen. Für den einzelnen Patienten ist daher die individuelle Interpretation aller seiner Daten durch den behandelnden Arzt unerlässlich. Aber auch die individuelle Expertise als klinische Erfahrung ist limitiert, da sie nur auf dem bisherigen Erleben des Arztes beruht.
Hier könnte das Zusammenführen von Versorgungsdaten vieler Patienten und Praxen und deren Auswertung als o. g. Big-Data-Analysen in Form von Online-Assistenz-Systemen zusätzlich helfen. Ebenso sind eine Online-Plausibilitätsprüfung der eingegebenen Daten sowie Warnhinweise bei Diagnosen und Medikation möglich. Alle Daten können überwacht oder durch Algorithmen weiter analysiert werden.
Mit dem digitalen Erfassen von z. B. Blutglukosedaten können Berechnungen (z. B. Mittelwert, Time in Range) durchgeführt, Vergleiche (Zeiträume) angestellt und Cluster (Gruppen) gebildet werden. Dieses kann intraindividuell für den jeweiligen Patienten wie auch interindividuell zwischen Patientengruppen angewendet werden. Von erfolgreichen Behandlungen Einzelner können so viele profitieren und umgekehrt. Die klinische Expertise wird damit objektiviert und systematisiert.
Die Ziele der Digitalisierung in der Diabetologie
Der Diabetes mellitus ist eine Erkrankung, die weltweit weiter zunimmt. Dies erfordert in der Zukunft wegen des Steigens der Patientenzahlen pro Arzt eine Effizienzsteigerung. Die ärztlichen Ressourcen sind limitiert und eine Änderung ist nicht in Sicht. Es sollte deshalb ein vitales Interesse aller Beteiligten im Gesundheitswesen sein, diese ärztlichen Ressourcen effektiv zu nutzen. Die Digitalisierung in der diabetologischen Schwerpunktpraxis muss deshalb folgende Ziele verfolgen:
- Einsparen der Recherchezeit
- effektives Datenmanagement und effektive Datenaufbereitung
- Verbessern der Behandlungsabläufe
- verlustfreie, sichere und für die Weiterverarbeitung nutzbare Kommunikation
- Schaffen von Freiraum für das Arzt-Patient- bzw. Arzt-Berater-Gespräch
- Erhalt eines menschenfreundlichen Arbeitsplatzes u. a. m.
Was ist zu tun?
Die Digitalisierung darf nicht zusätzliche Arbeitszeit verbrauchen, sondern muss diese schonen. Hierzu benötigen wir verbindliche und ressourcenschonende Regelungen zum Umgang mit Daten. Hierzu bedarf es vor allem einer Definition der Datenhoheit (Patient ist Eigentümer seiner Daten?) und eines abgestuften Systems von Datenfreigaben.
Die Digitalisierung darf nicht zusätzliche Arbeitszeit verbrauchen, sondern muss diese schonen.
Das Auslesen von Devices muss automatisiert über standardisierte kabellose Schnittstellen mit Speicherung in konsentierten Datenbanken erfolgen. Hierzu gehört die Schaffung einer umfassenden Interoperabilität und -konnektivität, um Programme entwickeln zu können, die die Daten aller Devices zusammenführen und deren individuelle und intraindividuelle Auswertung ermöglichen. Die Behandlungsdaten werden zusammengeführt und durch Big-Data-Analysen unter Beachtung von Studien und Leitlinien sowohl in Health-Professional-Support-Systeme wie auch in Patient-Support-Systeme überführt und den Behandlern und den Patienten online oder durch Apps zur Verfügung gestellt.
Lösung kann nur eine web- oder cloudbasierte, digitale Patientenakte bringen
Bei konsequenter Analyse der Probleme und der bisherigen Entwicklung der Digitalisierung spricht vieles dafür, dass eine web- oder cloudbasierte, digitale Patientenakte die Lösung bringt. Nur dadurch lässt sich eine effiziente und kostengünstige Sammlung und Analyse der Daten und damit eine patientenzentrierte Versorgung gewährleisten, die die sprechende Medizin unterstützt, anstatt sie zu behindern. Die Vielzahl der aktuellen Ansätze zur elektronischen Patientenakte kann deshalb nur als Übergangslösung akzeptiert werden, um die beste Lösung zu finden.
Online-Schulungen, kontext- und problembezogene Beratung, persönliches oder digitales Coaching und Telemedizin müssen das bisherige Konzept ergänzen.
Die Digitalisierung ermöglicht die Implementierung neuer Behandlungskonzepte im Sinne einer personalisierten Medizin auf dem Boden von Big-Data-Analysen. Diese erhebliche Umstrukturierung im Gesundheitswesen ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, deren Kosten nicht auf die Ärzte allein abgewälzt werden dürfen. Der gesamte Prozess muss durch Investitionshilfen und durch eine adäquate Honorierung unterstützt werden. Langfristig werden diese Investitionen die Versorgung der Bevölkerung verbessern und zu Einsparungen führen können.
Begleitung durch praktisch tätige Ärzte
Diese Innovationen müssen von praktisch tätigen Ärzten begleitet werden, damit sowohl deren Ansprüchen und Bedürfnissen, aber auch denen der Patienten ausreichend Rechnung getragen wird. Es müssen ebenso Versorgungsdaten wie klinische Studien Einfluss auf (gesundheits-)politische Entscheidungen haben. Ebenso ist die Politik gefordert, rechtsverbindliche und praktikable Regelungen zum Datenschutz, Datenmanagement, Internet und zur Finanzierung zu finden.
Autoren:
Dr. Hansjörg Mühlen
Diabetologikum Duisburg, Ruhrorter Str. 195, 47119 Duisburg
Dr. Andreas Lueg
Diabeteszentrum L1 Hameln, L1-Ärztehaus, Lohstraße 1, 31785 Hameln