Prof. Dr. Bernhard Kulzer

Künstliche Intelligenz, Big Data

Selbstmanagement, Therapie, frühzeitige Diagnose auch der Diabetesfolgen sowie digitales Krankenhaus: Riesige Datensätze und künstliche Intelligenz verändern alles in der Diabetologie. Nicht wenige träumen sogar von einer „künstlichen Heilung“ des Typ-1-Diabetes.

Diabetes wird im Englischen auch als „data driven disease“ (kurz „DDDD“) bezeichnet, da im Verlauf des Diabetes und der Diabetestherapie große Datenmengen anfallen. Allein durch die Methode der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) entstehen pro Nutzer und Jahr mehr als 100.000 Glukosedaten. In dem jährlichen Bericht von Glooko, einer weltweiten Plattform für Diabetes-Management und Analyse von Glukosedaten, wird für das Jahr 2018 über die Auswertung von 15 Milliarden Glukosedaten berichtet [Glooko 2019]. Neben biologischen Parametern (z. B. Biomarker, Vitalparameter), Verhaltensdaten (z. B. körperliche Bewegung, Essen), Daten zur Therapie (z. B. Insulindosierung, Glukosedaten) und Befunden (z. B. Arztbriefe, bildgebende Verfahren) fällt mittlerweile eine immer größere Zahl an Daten über ­Wearables und den Trend zum Selbstmonitoring von Gesundheitsdaten an – wie Daten zur Herzfrequenz, zur Schlafqualität, zur körperlichen Aktivität, Stimmung, Ernährung etc. Auch die Nutzung neuer Technologien (z. B. App-Nutzung, Downloads) oder die Kommunikation über Diabetes (z. B. E-Mails, Social Media) mit Behandlern, Institutionen und anderen Personen lässt die Anzahl der Daten im Kontext des Diabetes exponentiell ansteigen. Für Forscher ergeben sich durch die Analyse des Zusammenhangs genetischer, epigenetischer und biologischer Daten sowie Umwelt- und Lebensstilfaktoren neue Möglichkeiten zum Verständnis von Krankheitsprozessen und personalisierten Therapiestrategien.

Daten richtig managen und auswerten

Im Zeitalter der Digitalisierung stammen diese Daten aus den unterschiedlichsten Quellen, werden in Clouds und Datenbanken gespeichert und fließen zwischen den unterschiedlichsten Anwendern und Anwendungen hin und her. Diese gewaltige Anzahl von Daten – „Big Data“ – richtig zu speichern, den Datenfluss zu managen, Auswertungen vorzunehmen und hierbei auch den Datenschutz zu wahren, ist gleichermaßen eine herausfordernde Aufgabe für Menschen mit Diabetes, Diabeteseinrichtungen, Forscher und andere Institutionen, wie z. B. Krankenkassen. Für fast alle Bereiche des Dia­betes gibt es mittlerweile Lösungen, die auf den verschiedenen Methoden der künstlichen Intelligenz (KI) beruhen. Mit ihnen verbindet sich etwa die Hoffnung, den Ausbruch des Typ-2-Dia­betes besser verhindern zu können, mithilfe von Algorithmen über eine „künstliche Bauchspeicheldrüse“ den Typ-1-Diabetes besser behandeln zu können, diagnostische und therapeutische Entscheidungen besser treffen zu können und menschliche Fehlleistungen möglichst zu verhindern. Hierbei werden ganz unterschiedliche Methoden rund um KI, ­Machine Learning oder Deep Learning angewendet. Insgesamt ist die Anwendung von KI im Gesundheitswesen der Trend der Zukunft. Experten schätzen, dass sich der weltweite Umsatz für künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen von ca. 1,8 Mrd. € im Jahr 2018 schon 2025 auf 32 Mrd. € steigern wird.

Was ist künstliche Intelligenz?

Eine allgemeingültige Definition künstlicher Intelligenz gibt es nicht, das Spektrum von Technologien und Perspektiven zu KI ist hierfür zu breit. Allgemein wird unter künstlicher Intelligenz die Simulation von Prozessen menschlicher Intelligenz durch Maschinen, insbesondere Computersysteme, verstanden. Hierzu gehören die intelligente Erkennung von Sprache, kreatives Verhalten, die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen und Schlussfolgerungen aus unvollständigen Informationen zu ziehen, oder auch intrapersonale (z. B. Selbstwahrnehmung) oder interpersonale (z. B. Einfühlungsvermögen) Intelligenz.

Abb. 1: Verschiedene Methoden der künstlichen Intelligenz

Aktuell basieren die meisten KI-Anwendungen bei Diabetes auf „schwachen KI-Systemen“, welche für eine spezielle Aufgabe entwickelt und trainiert wurden – wie ein virtueller persönlicher Assistent zur Unterstützung von Therapieentscheidungen bei Diabetes. „Starke KI-Systeme“ mit verallgemeinerten menschlichen kognitiven Fähigkeiten, die bei unbekannten Aufgaben genügend artifizielle Intelligenz besitzen, um selbstständig eine Lösung zu finden, gibt es bislang bei Diabetes nicht. Die meisten der bislang im Bereich des Diabetes eingesetzten KI-Lösungen basieren auf Teildisziplinen der KI, wie etwa „Deep Learning“ oder auf verschiedenen Methoden des „maschinellen Lernens“ (siehe Abb. 1).

Maschinelles Lernen

Für die Entwicklung von KI-Systemen ist die Verfügbarkeit großer Datenpools mit diabetesbezogenen Daten notwendig. Das Ziel „maschinellen Lernens“ besteht darin, verschiedene Daten intelligent miteinander zu verknüpfen und daraus Zusammenhänge und Muster zu erkennen, aus denen dann in einem weiteren Schritt Rückschlüsse gezogen und Vorhersagen getroffen werden können. Diese Muster werden vom Computer gelernt und sind Grundlage für neue Entscheidungen in der Zukunft.

Zum Beispiel werden anhand eines großen Datensatzes von Glukosedaten („Trainingsdaten“) Algorithmen mit dem Ziel entwickelt, bei neuen Datensätzen selbstständig bestimmte Muster zu erkennen, die dann Grundlage für eine bestimmte Insulindosierung sind. Deep Learning ist ein spezielles Verfahren des maschinellen Lernens, das auf neuronalen Netzen basiert. Diese sind eine Ansammlung einzelner Informationsverarbeitungseinheiten (Neuronen), welche über zahlreiche Knoten untereinander verschaltet sind. Die Gewichtung der einzelnen Verbindungen wird durch Trainingsprozesse nach und nach festgelegt und kann dann als Algorithmus zur Lösung von Aufgaben eingesetzt werden. Eine weitere KI-Anwendung bei Diabetes sind Chatbots, welche automatisch Fragen zur Therapie beantworten, Hilfe bei Therapieentscheidungen und Patienten Feedback geben.

KI-Methoden verändern die ­Diabetestherapie

Während die ersten KI-Anwendungen bei Dia­betes auf isolierte Fragestellungen wie die KI-unterstützte Diagnostik von Retinopathiebefunden abzielten, werden weitreichende KI-Lösungen die Forschung wie auch die Therapie des Diabetes gleichermaßen nachhaltig verändern [Rumbold 2019].

KI-Methoden werden mittlerweile in zahlreichen Bereichen der Diabetesforschung eingesetzt, so z. B.:

  • zur Identifizierung und Vorhersage von Biomarkern für Diabetes, diabetische Folgeerkrankungen, Medikamente und Therapien
  • zur Erforschung des Zusammenhangs zwischen Genetik, Epigenetik, Lebensstil und Umweltfaktoren
  • für expertengestützte Unterstützungs- und Entscheidungssysteme, Risikoabschätzung und -prognostik
  • zur Entwicklung personalisierter Präventions- und Therapiekonzepte
  • für digitale Lösungen zur Simulation biologischer Prozesse (z. B. „künstliche Bauchspeicheldrüse“).

Eine Literaturanalyse zeigt, dass aktuell vor allem in den folgenden Bereichen der Diabetestherapie KI-Systeme angewendet werden [­Contreras 2018]:

  • Identifikation von Risiken für die Entwicklung des Typ-2-Diabetes sowie von Personen mit einem unentdeckten Typ-2-Diabetes
  • Identifizierung von Risiken, Personen mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von Folgeerkrankungen, erhöhtem Mortalitätsrisiko
  • KI-unterstützte Diagnostik von Begleit- und Folgeerkrankungen
  • Analyse und Vorhersage von Glukoseverläufen (z. B. Glukosetrends, Identifikation und Quantifizierung von Einflussfaktoren)
  • KI-unterstützte Steuerung des Glukoseverlaufs
  • Expertensysteme zur Diagnostik, Risikoabschätzung, Therapiesteuerung, Bots.

Prävention des Diabetes

Eines der bislang ungelösten Probleme des Diabetes stellt der weltweit fast ungebremste Zuwachs von Menschen mit Typ-2-Diabetes dar. KI-gestützte Screening-Algorithmen ermöglichen es, in unterschiedlichsten Settings das persönliche Risiko für Typ-2-Diabetes zu ermitteln und Personen im Stadium des Prädiabetes zu identifizieren. Zur Unterstützung der Diagnostik des Typ-2-Diabetes stehen ebenfalls KI-unterstützte Expertensysteme sowohl für die Patienten, aber auch für Ärzte zur Verfügung. Digitale Coaching-Programme können unter Verwendung unterschiedlichster Datenquellen mithilfe KI-unterstützter Programme zur Lebensstilintervention Personen dabei helfen, die Manifestation des Typ-2-Diabetes zu verhindern.

Diagnosestellung

Eine Studie in „Nature Medicine“ erregte in der Fachwelt viel Aufsehen: Sie wurde im „Lancet Digital Health“ unter dem Titel „Is the future of medical diagnosis in computer algorithms?“ kommentiert. Dort hatten chinesische Forscher der Guangzhou Medical University in Zusammenarbeit mit der University of California in La Jolla, Kalifornien, einen Algorithmus entwickelt, der Diagnosen in der Pädia­trie – auch Dia­betes – mit einer Genauigkeit stellen konnte, die der von Experten ähnlich war [­Liang 2019]. In einer umfangreichen Arbeit erstellten die Forscher erst eine Semantik mit mehr als 1 Mio. Symptomen zu 55 verschiedenen Krankheitsbildern. In einem zweiten Schritt wurde das KI-System dann in Anlehnung an wissenschaftliche Leitlinien und auf der Grundlage von mehr als 100 Mio. Datenpunkten aus Patientenakten (von im Durchschnitt 2 Jahre alten Kindern) per Spracheingabe trainiert. Der entwickelte selbstlernende Algorithmus konnte in 80 bis 98 % der Fälle die korrekte Diagnose stellen und übertraf damit unerfahrene Mediziner bei der Diagnose von Krankheiten bei Kindern mittlerweile deutlich.

In eine aktuelle Metaanalyse [Liu 2019] unter Beteiligung von Forschern der LMU München flossen insgesamt 31.587 Studien (!) ein, die zwischen 2012 und 2019 zu KI-unterstützten Systemen in der Medizin publiziert wurden: Die Forscher kamen zu der Schlussfolgerung, dass mittlerweile die Genauigkeit von KI-unterstützten Diagnosesystemen der von medizinischen Fachleuten gleichwertig ist. Allerdings bemängeln die Autoren, dass die meisten der untersuchten Studien keine genauen Angaben zu dem jeweils verwendeten Algorithmus machen und damit eine wissenschaftliche Überprüfbarkeit der Ergebnisse nur eingeschränkt möglich ist. Zudem hängt die Genauigkeit des Algorithmus und dessen Übertragbarkeit sehr stark von dem Datenpool ab, an dem die KI entwickelt und trainiert wurde.

Um dieses Problem zu lösen, wurde 2018 von den zwei UN-Organisationen World Health Organization (WHO) und International Telecommunication Union (ITU) eine „Focus Group on Artificial Intelligence for Health“ (FG-AI4H) eingerichtet, um einen internationalen, unabhängigen und standardisierten Bewertungsrahmen für KI-Systeme im Gesundheitswesen zu schaffen. Dazu wurden standardisierte Datenpools geschaffen, die als objektiver Vergleichsrahmen für die Überprüfung der Testgüte und für Benchmarking-Prozesse der unterschiedlichen KI-Systeme dienen können.

Risiken erkennen und minimieren

Menschen mit Diabetes haben häufig unerkannte Begleiterkrankungen, ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von Folgeerkrankungen und insgesamt im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein erhöhtes Mortalitätsrisiko. Es liegt nahe, durch die KI-gestützte Analyse großer Datenpools aus der Versorgung bzw. von Studien das Risiko für die Entwicklung von gesundheitlichen Risiken im Zusammenhang mit Diabetes zu quantifizieren und zu personalisieren. Im letzten Jahr wurde eine Vielzahl solcher Ansätze für Patienten mit Diabetes veröffentlicht.

Ein Beispiel für einen solchen Ansatz ist die Entwicklung eines Risikoscores für Patienten mit Typ-2-Diabetes in Hinblick auf das 5-Jahres-Risiko für eine Herzinsuffizienz [Segar 2019]. Anhand der Daten der ACCORD-Studie wurde mithilfe der Methode des Random Survival Forest (RSF) auf der Basis von in der klinischen Routine vorliegenden Labordaten und Befunden (z. B. EKG) ein Modell entwickelt, das die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten einer Herzinsuffizienz vorhersagt und in einem weiteren Schritt auch für personalisierte Informationen genutzt werden kann.

Für die diabetische Nephropathie entwickelte eine japanische Gruppe [Makino 2019] ein Vorhersagemodell für Patienten ohne bisherige Anzeichen (z. B. Albuminurie) – basierend auf einem Datensatz von 64.059 Daten von Menschen mit Typ-2-Diabetes mithilfe von KI. Für Patienten mit einer Nephropathie errechnet das Modell das Risiko für die Entwicklung eines Nierenversagens mit Dialysepflicht.

Um das Risiko für die Entwicklung einer Hypertonie als einem wichtigen Faktor für die Entwicklung einer Nephropathie abzuschätzen, nutzte eine Arbeitsgruppe der Universität Stanford [Ye 2018] die Daten von 1,5 Mio. Patienten aus Maine, um mithilfe des Maschinen-Lern-Algorithmus XGBoost die 1-Jahres-­Auftretenswahrscheinlichkeit einer Hypertonie zu bestimmen. Durch die breite Datenbasis konnten auch Einflussfaktoren wie soziale Bedingungen, Ernährung, Medikamente und psychische Befindlichkeit in das Modell integriert werden.

Aber auch Risiken für eher selten vorkommende Ereignisse, wie das Risiko für die Entwicklung eines Typ-2-Diabetes nach einer Lungentransplantation, können mit Methoden des maschinellen Lernens abgeschätzt werden [Bhat 2018]. Die mit Diabetes verbundenen Risiken und das Outcome bei Menschen mit Diabetes auf der Intensivstation wurde von Anand et al. [Anand 2018] anhand von nur 5 Variablen mithilfe von KI bestimmt.

Für die Diagnostik der Retinopathie gibt es mittlerweile mehrere KI-unterstützte Systeme, die von der Food and Drug Administra­tion (FDA) oder der European Medicines Agency (EMA) zugelassen sind (z. B. EyeArt-System, IDx-DR) und sowohl unterschiedliche KI-Methoden benutzen als auch an unterschiedlichen Datensätzen entwickelt wurden. In einem systematischen Review kritisieren Grzybowski et al. [Grzybowski 2019] jedoch, dass die Algorithmen der mittlerweile kommerziell agierenden Unternehmen nicht offengelegt werden, was eine Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Ansätze erschwert.

Patienten mit einem diabetischen Fuß können mithilfe der Kamera des Smartphones Aufnahmen ihrer Wunde machen, die von einem KI-System ausgewertet werden und sowohl den Patienten als auch Ärzten einen Status der Wundheilung rückmelden – bei einer Verschlechterung gibt das System Warnhinweise [Wang 2015].

Analyse und Steuerung von ­Glukoseverläufen

Seit der Möglichkeit, die Glukose kontinuierlich zu messen, gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Techniken und Strategien, den Glukoseverlauf mithilfe von KI zu analysieren und vorherzubestimmen. ­[Woldaregay et al. 2019] fanden für einen aktuellen Review insgesamt 624 Artikel zu dieser Thematik, in denen ganz unterschiedliche KI-Strategien (z. B. neuronale Netze, Support Vector Machines, Gauß-Prozess) angewendet wurden. Diese sind Voraussetzung für die Entwicklung einer Reihe von Anwendungen, um Menschen mit Diabetes zu unterstützen, den Glukoseverlauf zu kontrollieren, wie:

  • Trendanzeigen
  • Alarme bei Unter-/Überschreitung bestimmter Zielwerte
  • Warnung vor Unter-/Überzuckerungen
  • Boluskalkulatoren
  • automatische Mustererkennung
  • Erkennung bzw. Ausgleich externer Ereignisse mit Einfluss auf die Glukosesteuerung
  • Closed Loop bzw. Automated Insulin Delivery (AID) -Systeme

Die Entwicklung von KI-gestützten Algorithmen zur semi- oder vollautomatischen Steuerung der Glukoseverläufe ist allerdings alles andere als trivial, da sehr viele unterschiedliche Faktoren (z. B. Ernährung, Stress, Bewegung) auf die Glukose einwirken. Eine Forschungsrichtung zielt darauf ab, diese Faktoren ebenfalls digital zu erfassen (z. B. Ausmaß der Bewegung durch Schrittzähler, Pulsmessung) und in den Algorithmus zu integrieren. Andere Ansätze haben das Ziel, mögliche Einflüsse auf den Glukoseverlauf automatisch zu erkennen (wie z. B. Mahlzeiten) und damit eine automatische Insulingabe auszulösen. Auch gibt es Ansätze, die möglichen Schwachpunkte von Automated Delivery Systems (AID), wie die verzögerte Insulinwirkung, ebenfalls durch Algorithmen auszugleichen und eine noch zeitnähere Steuerung des Glukoseverlaufes zu erreichen.

Automatische Erkennung von ­Kohlenhydraten

Weltweit arbeiten Forscher auch an Möglichkeiten, mithilfe von KI-Technik die Zusammensetzung von Mahlzeiten zu bestimmen. Systeme wie „Snap-n-Eat“ oder „GoCarb“ erfassen Nahrungsmittel mithilfe automatisierter Bildverarbeitung und künstlicher Intelligenz, mit denen auch der Kohlenhydratgehalt bestimmt werden kann. Momentan sind diese Systeme jedoch noch nicht so alltagstauglich, dass auf Grundlage dieser Ergebnisse zuverlässlich ein genauer Insulinbolus abgegeben werden kann.

Expertensysteme

Künstliche Intelligenz wird auch bei Expertensystemen für Ärzte und Patienten eingesetzt. Bei Ärzten gibt es sehr unterschiedliche Systeme, die diese bei der Diagnose, Therapieentscheidungen (z. B. Abgleich mit wissenschaftlichen Leitlinien), Vermeidung von Nebenwirkungen (z. B. Medikationswechselwirkungen), Evaluation und Benchmarking unterstützen. Ein Beispiel hierfür ist ein kanadisches Expertensystem für Hausärzte („Diabetes Web-Centric Information and Support Environment“, DWISE), das Hausärzte bei der Therapie des Typ-2-Diabetes sowohl in Hinblick auf die medikamentöse, als auch die nicht medikamentöse Therapie unterstützt [Abidi 2018].

„Patient-Support-Programme“ geben Patienten bei Therapieentscheidungen oder der Veränderung von Verhaltensweisen eine gezielte Unterstützung. „Sugar.IQ™“ vom Unternehmen Medtronic versucht beispielsweise als eine Art persönlicher digitaler Assistent, Patienten mit Typ-1-Diabetes mithilfe von KI-Strategien bei der Erkennung von Mustern des Glukoseverlaufs und den Faktoren, die den Glukosespiegel beeinflussen, zu unterstützen, und macht Vorschläge für eine bessere Therapiesteuerung.

Digitales Krankenhaus

Weltweit gibt es bereits einige Krankenhäuser, die versuchen, möglichst viele Prozeduren und Abläufe mithilfe künstlicher Intelligenz zu steuern. Neben dem Bradford Royal Infirmary Hospital in England, dem Humber River Hospital in Toronto oder dem amerikanischen John Hopkins Hospital in Baltimore hat auch das Klinikum Essen beschlossen, ganz auf KI im Krankenhaus zu setzen. Mithilfe elektronischer Krankenakten soll in Zukunft automatisiert nach unentdeckten Diabetesfällen gefahndet werden, auf Knopfdruck sind die Dia­betesdaten aller Patienten aufzurufen. Physician-Support-Programme sollen regelhaft bei der Diagnostik und Therapie von Menschen mit Diabetes eingesetzt werden und damit Behandlungsfehler verhindern. Künstliche Intelligenz soll bei der Untersuchung auf Folgeschäden eingesetzt werden und personalisierte Risiken errechnen.

Chancen und Risiken

Von der Anwendung künstlicher Intelligenz bei Diabetes erhoffen sich sowohl Ärzte als auch Patienten eine deutliche Erleichterung und Verbesserung der Diabetestherapie. Nicht wenige träumen sogar von einer „künstlichen Heilung“ des Typ-1-Diabetes.

Die Anwendung künstlicher Intelligenz bei Diabetes wird auch zu einer digitalen Transformation des Gesundheitssystems führen. Diabetes­patienten werden eine wichtigere, selbstbestimmtere Rolle einnehmen, da sie über mehr Informationen, Wissen und digital unterstützte Entscheidungshilfen verfügen werden. Die Dia­be­testherapie wird, so die Hoffnung, mit digitaler Unterstützung nicht nur partizipativer und patientenzentrierter, sondern auch proaktiver, präventiver und dank der Anwendung von KI evidenzbasierter und personalisierter werden. Allerdings werden sehr wahrscheinlich ganz andere Anbieter, Institutionen, Ärzte, Diabetesberater etc. als heute maßgeblich an der Therapie des Diabetes beteiligt sein.

KI-Anwendungen müssen jedoch wie alle anderen Therapieanwendungen nachvollziehbar und evidenzbasiert sein, was im Moment für die wenigsten gilt. Auch muss angesichts der voraussehbaren Veränderungen der Diabetestherapie durch KI ein kritischer Dialog über die Risiken von KI geführt werden. Oder wie es Kerr und Klonoff [Kerr 2019] in einem Editorial im Journal of Diabetes Science and Technology (JDST) ausdrückten: „Digitale Diabetesdaten und künstliche Intelligenz: mehr Demut und weniger Hybris“.


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Autor:

Prof. Dr. Bernhard Kulzer
Forschungsinstitut Diabetes-Akademie Bad Mergentheim (FIDAM), Diabetes Zentrum Mergentheim, Johann-Hammer-Straße 24, 97980 Bad Mergentheim