Dr. Winfried Keuthage, Dr. Hansjörg Mühlen

Apps in der Diabetologie: Update 2021

Apps sind aus dem Alltag vieler, wenn nicht sogar der meisten Menschen hierzulande nicht mehr wegzudenken. Nun können Apps auch als digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) anerkannt und somit auf Rezept verordnet werden – die Anforderungen dafür sind aber hoch. Wie sich damit die Versorgung von Menschen mit Diabetes verändern wird, wird die Zukunft zeigen.

Applikationen für Smartphones und Tablets (kurz: Apps) gewinnen in der Medizin und insbesondere auch in der Diabetologie an Bedeutung. Apps werden immer häufiger mit Hardware (z. B. Glukosesensoren, Wearables) und den Daten anderer Apps (z. B. Apple Health) kombiniert und werden damit Teil einer komplexen E-Health-Infrastruktur. Bislang mussten sich Betroffene Apps auf eigene Kosten beschaffen oder die kostenfreien und damit abgespeckte Versionen nutzen. Apps in Bezug auf Qualität, Datenschutz und Datensicherheit zu beurteilen, ist schwer. Bewertungen in den App-Stores beruhen auf subjektiven Eindrücken anderer Nutzer. Betroffene und Leistungserbringer sind mit einer unüberschaubaren Vielfalt digitaler Unterstützungsangebote konfrontiert.

Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG)

Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) hat mit dem „Digitale-Versorgung-Gesetz“ (DVG) den Begriff der digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGAs) eingeführt, zu denen auch Apps gehören. Das BMG verfolgt nach eigenen Angaben mit dem DVG das Ziel, DiGAs für Ärzte und Patienten bekannter und finanziell attraktiver zu machen und die gesetzlichen Krankenversicherungen zur Kostenübernahme von ­DiGAs zu bewegen. Damit haben mehr als 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherte Anspruch auf die Verordnung einer DiGA durch den behandelnden Arzt. Zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Artikels (September 2020) war weder der Prozess der Verordnung durch die Praxis noch der Prozess der Freischaltung oder Honorierung der DiGAs verabschiedet.

Kriterien für DiGAs im Sinne des DVG und § 139e SGB V

DiGAs im Sinne des DVG müssen maßgebliche Anforderungen an Funktionstauglichkeit, Sicherheit, Qualität, Datenschutz und Daten­sicherheit erfüllen und einen positiven Versorgungseffekt nachweisen. Eine konkrete Benennung der Anforderungen an Funktionstauglichkeit, Sicherheit, Qualität, Datenschutz und -sicherheit gestattet es den Herstellern von ­DiGAs, diese Anforderungen bereits bei der Produktentwicklung zu berücksichtigen und umzusetzen. Mit der Definition der Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit wird dem besonderen Schutzbedarf der Versicherten bei der Verarbeitung von Gesundheitsdaten Rechnung getragen. Zugleich werden Vorgaben definiert, die den technischen Datenschutz nach dem Stand der Technik gewährleisten und die an DiGAs zu stellenden Qualitätsanforderungen konkretisieren.

Beispiele für DiGAs

Eine DiGA ist ein digitales Medizinprodukt in den Händen von Patienten. Dienstleistungen wie Beratung oder Coaching können aus einer DiGA heraus bzw. im Zusammenhang mit der Nutzung einer DiGA angeboten werden. Eine DiGA kann neben der Software auch Geräte, Sensoren oder andere Hardware wie ­Wearables umfassen, solange die Hauptfunktion eine überwiegend digitale ist. DiGAs können beispielsweise über eine Schnittstelle Daten aus einem Wearable (z. B. Fitnessarmband) ­beziehen, solange dieses bei der Konformitätsbewertung beachtet und positiv bewertet worden ist. Werbung ist in DiGAs verboten, ebenso sind Tracking-Tools, die zu Werbung führen könnten, nicht erlaubt (siehe auch Abb. 1).

Abbildung 1: Kriterien für eine DiGA im Sinne des § 139e SGB V.


Digitale-Gesundheitsanwendungen-­Verordnung (DiGAV)

Die konkrete Umsetzung des DVG wird in der Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) sowie im BfArM-Leitfaden „Fast-Track-Verfahren“ geregelt. Beide wurden erstmals im April 2020 der Öffentlichkeit vorgestellt und können online eingesehen und heruntergeladen werden (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2020a).

DiGA-Verzeichnis des BfArM

Vom Anspruch der Versicherten sind solche ­DiGAs erfasst, die ein Prüfverfahren beim BfArM erfolgreich durchlaufen haben und in das neu geschaffene DIGA-Verzeichnis auf­genommen wurden. Im DiGA-Verzeichnis nach § 139e Absatz 2 und 3 SGB V werden umfassende Informationen zu den Eigenschaften und Leistungen der DiGAs veröffentlicht (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2020b). Den Eintrag in das DiGA-Verzeichnis beantragt der Hersteller beim BfArM. Daraufhin hat das BfArM drei Monate Zeit für die Bewertung. Dabei prüft das BfArM die Herstellerangaben zu den geforderten Produkteigenschaften sowie die Nachweise zu den positiven Versorgungseffekten. Wenn bei Antragstellung noch kein Nachweis über die positiven Versorgungseffekte vorliegt, kann der Hersteller einen Antrag auf vorläufige Aufnahme in das Verzeichnis stellen und den Nachweis innerhalb von einem Jahr (in Ausnahmefällen zwei Jahren) nachreichen (siehe Abb. 2).

Abbildung 2: Ablauf des Fast-Track-Verfahrens (Quelle: BfArM).


Nachweis positiver Versorgungseffekte

DVG und DiGAV sehen vor, dass lediglich solche digitalen Gesundheitsanwendungen in die Erstattung gelangen, die positive Versorgungseffekte nachweisen können.

Wie diese aussehen sollen und wie diese konkret nachzuweisen sind, ist in den §§ 8 ff ­DiGAV (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, 2020a) beschrieben. Demnach sei mit positiven Versorgungseffekten gemeint, dass es entweder einen medizinischen Nutzen oder patientenrelevante Struktur- und Verfahrens­verbesserungen in der Versorgung gebe. Medizinischer Nutzen wiederum bedeute, dass sich ein patientenrelevanter Effekt insbesondere hinsichtlich der Verbesserung des Gesundheitszustands, der Verkürzung der Krankheitsdauer, der Verlängerung des Überlebens oder einer Verbesserung der Lebensqualität ergebe.

Patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserungen in der Versorgung seien beispielsweise im Rahmen der Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten auf die Unterstützung des Gesundheitshandelns der Patienten ausgerichtet. Ähnliches gelte für die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen. Des Weiteren seien auch die Integration der Abläufe zwischen Patientinnen und Patienten und Leistungserbringern erfasst. Der Nachweis für positive Versorgungseffekte muss entsprechend auch ohne den Einsatz von Zusatzangeboten (wie ­Coaching) geführt werden.

Vergleichende Studien sind notwendig

Das DVG sieht vor, dass die geforderten positiven Versorgungseffekte der DiGAs in Studien nachgewiesen werden. Laut §§ 10 ff DiGAV müsse der Hersteller eine vergleichende Studie vorlegen, welche zeige, dass die Anwendung der digitalen Gesundheitsanwendung besser ist als deren Nichtanwendung. Als vergleichende Studien seien hierbei auch retrospektive vergleichende Studien einschließlich retrospektiver Studien mit intraindividuellem Vergleich zulässig. Alternativ könne der Hersteller auch prospektive Vergleichsstudien vorlegen. In jedem Fall seien quantitative vergleichende Studien notwendig, bei denen der gewählte methodische Ansatz für den positiven Versorgungs­effekt, der gezeigt werden soll, angemessen gewählt sei.

Vergleich mit „Nichtbehandlung“ ­möglich

Als Vergleichsarm komme eine Nichtbehandlung oder eine Behandlung ohne digitale Gesundheitsanwendung infrage, sofern dies der Versorgungsrealität entspreche. Alternativ sei auch der Vergleich mit der Behandlung mithilfe einer anderen vergleichbaren DiGA möglich. In diesem Fall muss die andere DiGA zum Zeitpunkt der Antragstellung im DiGA-Verzeichnis endgültig gelistet sein. Die Studien haben in Deutschland zu erfolgen oder aber die Übertragbarkeit auf den deutschen Versorgungs­kontext muss belegt werden.

Die Entwicklung und ­Erprobung einer DiGA kann mehrere Hunderttausend Euro kosten.

Laut §§ 13 ff DiGAV habe letztlich das BfArM im Rahmen einer Abwägung zu entscheiden, ob auf Grundlage der vorgelegten Unterlagen positive Versorgungseffekte hinreichend nachgewiesen seien. Die Abwägungsentscheidung berücksichtige die zu erwartenden positiven wie negativen Effekte auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse insbesondere unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Indikation, des Risikos der DiGA und der vorhandenen oder nicht vorhandenen Versorgungsalternativen. In begründeten Einzelfällen könne das BfArM von den oben beschriebenen Vorgaben abweichen.

Für einen Antrag nach § 139e Absatz 4 SGB V hat der Hersteller zur plausiblen Begründung, dass im Rahmen einer Erprobung ein positiver Versorgungseffekt nachgewiesen werden kann, mindestens die Ergebnisse einer systematischen Datenauswertung zur Nutzung der digitalen Gesundheitsanwendung und ein nach allgemein anerkannten wissenschaftlichen Standards erstelltes Evaluationskonzept vorzulegen.

Kosten für die Anerkennung einer DiGA

Die Entwicklung und Erprobung einer DiGA kann mehrere Hunderttausend Euro kosten. Hinzu kommen Aufwendungen für Vertrieb, Außendienst und Werbung. Studien zur Anwendung von DiGAs wurden bisher noch selten durchgeführt. Das BMG schätzt die Kosten für die Planung und Durchführung der im Rahmen des DVG-Verfahrens geforderten Studien zum Nachweis positiver Versorgungseffekte pro Einzelfall auf bis zu 200.000 Euro. Je nach Methodik und Verfahren können zudem patientenbezogene Kosten etwa für die Rekrutierung von Probanden anfallen. Die Verwaltungsgebühren für das Verfahren beim BfArM schätzt das BMG auf 5.000 bis 10.000 Euro pro Einzelfall.

Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e. V.

Um eine gemeinsame Stimme aller E-Health-­Anbieter und Förderer in Deutschland zu schaffen, wurde der Spitzenverband Digitale Gesundheitsversorgung e. V. gegründet. Der Verband vertritt seine Mitglieder gegenüber den anderen Partnern des Gesundheitssystems, der Politik und der Öffentlichkeit. Im Rahmen des DVG steht er u. a. den gesetzlichen Kranken­kassen als Verhandlungspartner zur Verfügung. Eine Liste von anerkannten oder eingereichten ­DiGAs veröffentlicht der Verein auf seiner Website, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit (https://digital­versorgt.de/diga-verzeichnis/). Die ­Hamburger ­Gesundheits-Marktplatz GmbH hat auf ihrer Website eine Suchfunktion für DiGAs und wirbt mit einem App.Store-Qualitätsservice, d. h., ein Experten-Team spricht Empfehlungen aus (Gesundheits-Marktplatz, 2020).

Aktuelle Entwicklungen

Aufgrund der vom Gesetzgeber bewusst gewählten hohen Anforderungen an die DiGAs ist der erwartete Run auf die Zulassung unterblieben, da viele Start-ups weder die finanziellen noch die organisatorischen Anforderungen bewältigen können. Eine reine Tagebuch-App oder eine reine Ernährungs-App werden keine Zulassung als DiGA bekommen und kaum ein Verordnungsvolumen erreichen, das den hohen Aufwand rechtfertigt. Zudem werden diese Apps weiterhin in Konkurrenz zu den bisherigen häufig kostenfreien Apps stehen.

Für die ­behandelnden Ärzte eröffnen sich neue Möglichkeiten der Therapiesteuerung in Richtung einer „data ­driven medicine“.

Es zeichnet sich daher die Entwicklung ab, dass sich DiGAs eher in Richtung einer integrativen Anwendung orientieren: Ernährungsratgeber ist mit Ernährungstagebuch gekoppelt, zugleich wird die Bewegung dokumentiert, evtl. unter Zuhilfenahme von Schrittzählern, der Puls­uhr und der Bluetooth-Waage. Kontext­bezogen werden Medien zur Beratung über Ernährung und Bewegung angeboten. Die Dokumentation erfolgt in einem Tagebuch, in dem auch der Medikationsplan, die Dokumentation von Blutdruckwerten und Blutzucker enthalten sind, evtl. durch direkte Anbindung von Blutdruck- und Glukosemessgeräten. Diese Daten werden mit Einverständnis des Patienten der behandelnden Praxis über ein Web-Portal zur Verfügung gestellt. Hiermit eröffnen sich für die behandelnden Ärzte neue Möglichkeiten der Therapiesteuerung in Richtung einer „­data driven medicine“. Hieraus ergibt sich ein hoher medizinischer und organisatorischer Nutzen für den Patienten und den behandelnden Arzt. Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient in der Sprechstunde wird sich damit verbessern, da ohne die Abfrage und Dokumentation von Daten mehr Zeit für Interpretation und Beratung bleibt.

Mittelfristig ­haben ­DiGAs das ­Potenzial, Teil einer digital ­gestützten Gesundheitsversorgung zu werden.

Fazit

Mittlerweile ist das „Digitale-Versorgung-­Gesetz“ (DVG) etwas mehr als ein Jahr in Kraft und ermöglicht in Deutschland als erstem Land weltweit die Verordnung von DiGAs auf Rezept. Aktuell ist noch nicht abzusehen, ob und in welchem Umfang das DVG die Versorgung von Menschen mit Diabetes nachhaltig verändern wird. Die Listung im DIGA-Verzeichnis allein wird nicht genügen. Ärzte, die die DiGAs verordnen sollen, müssen von Nutzen und Sicherheit der DiGAs sowohl für den Patienten, aber auch für sich selbst überzeugt sein. Die wenigsten DiGAs werden komplett selbsterklärend sein, sodass für die notwendigen Schulungen der Mitarbeiter und der Patienten und die zusätzlichen ärztlichen Leistungen auch eine angemessene zusätzliche Vergütung für Ärzte sicherzustellen ist. Es bleibt abzuwarten, welche DiGAs sich durchsetzen werden und den Ausgleich schaffen zwischen Datenschutz und Informationssicherheit auf der einen und Nutzer­freundlichkeit und Leistungsfähigkeit auf der anderen Seite. Mittelfristig haben ­DiGAs das Potenzial, Teil einer digital gestützten Gesundheitsversorgung im Zusammenspiel mit der elektronischen Gesundheitskarte (eGK), der elektronischen Patientenakte (ePA), den Plattformen der Krankenkassen und telemedizinischen Angeboten zu werden.


Literatur:

  1. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): Das Fast-Track-Verfahren für digitale Gesundheitsanwendungen (­DiGA) nach § 139e SGB V. Ein Leitfaden für Hersteller, Leistungserbringer und Anwender. 2020 (a). ­https://www.bundesgesundheitsministerium.de/­fileadmin/­Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_­Verordnungen/GuV/D/DiGA-Leitfaden_2020.pdf (Zugriff: 02.12.2020)
  2. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM): DiGA-Verzeichnis. 2020 (b). ­https://diga.bfarm.de/de/verzeichnis (Zugriff: 02.12.2020)
  3. Gesundheits-Marktplatz: DIGAApp.Store. 2020. https://www.digaapp.store (Zugriff: 02.12.2020)

Autoren:

Dr. Winfried Keuthage
Schwerpunktpraxis für Diabetes und Ernährungsmedizin, MedicalCenter am Clemenshospital, Düesbergweg 128, 48153 Münster

Dr. Hansjörg Mühlen
Diabetologikum Duisburg, Ruhrorter Straße 195, 47119 Duisburg