Dr. Tobias D. Gantner

Ist das digital oder kann das weg?

Das Digitale beeinflusst bereits heute intensiv unseren Alltag – wir aber müssen erst noch lernen, damit umzugehen. Was bedeutet diese Technologie für den Beruf des Arztes, für die Beziehung zwischen Arzt und Patient? Wie ist diese Entwicklung historisch einzuordnen? Was werden wir in der Zukunft erleben? Ein Versuch über die Arztpraxis und die Medizin der Zukunft.

Die Hütten der Heiler, die Asklepieia des antiken Abendlands, die monastische Medizin des Mittelalters und das Champions-League-Krankenhaus Charité stehen über eine jahrtausendealte Linie als Orte der Hoffnung, Hilfe und Heilung miteinander in Verbindung. Durch gesellschaftliche Veränderungen und technologische Innovationen entstanden immer wieder neue Organisationsformen der medizinischen Berufsausübung, der Behandlung von Patienten und des Gewinns von Erkenntnissen zur Funktionsweise der Welt.

Wir stehen erneut an der Schwelle einer großen Veränderung und müssen uns wieder Gedanken zu einer zukunftsfähigen Organisa­tion des Gemein- und Gesundheitswesens, aber auch der Anwendung von Forschungsmethoden zur Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen machen. Diesmal findet das vor dem Hintergrund einer globalisierten, digital vernetzten und meist säkular geprägten Welt statt, in der Wissen und Meinen manchmal gefährlich nah beieinanderliegen.

Wir müssen lernen, mit einer Technologie umzugehen, die wir in ihrer Gesamtheit noch gar nicht begreifen können, die aber schon heute unseren Alltag beeinflusst und in Zukunft weitere Prozesse der Produktion bestimmen wird. Wie die digitale Transformation mit künstlicher Intelligenz, selbstlernenden Systemen, mit ubiquitärer Konnektivität und Sensorik die Art und Weise, wie wir Medizin betreiben, verändern wird, gehört zu einer der wichtigsten gesellschaftlichen Aufgaben und Herausforderungen des beginnenden 21. Jahrhunderts.

Der Mensch bleibt im Mittelpunkt

Auch die Patientin der Zukunft wird zuallererst eines sein: ein Mensch. Diese conditio ­humana verändert auch der Einsatz technologischer und, in der gegenwärtigen Zeit, insbesondere digitaler Hilfsmittel in ihren Grundzügen nicht: Der Patient wird demnach ein Individuum bleiben, das mit dem Bedürfnis, geheilt zu werden, mit einem anderen Menschen, dem er zutraut, dieses Heilungsversprechen zu erfüllen, in Beziehung tritt. Dieses Szenario ist so alt wie die Menschheit selbst. Die Arzt-Patienten-­Beziehung steht daher auch unter einer besonderen Würdigung, denn der „Arzt als Medikament“ in seiner Wirksamkeit als Person ist ein wichtiger unterstützender Faktor auf dem Genesungsweg.

Der Patient wird ein Individuum bleiben, das mit dem Bedürfnis, geheilt zu werden, mit einem anderen Menschen, dem er zutraut, dieses Heilungsversprechen zu erfüllen, in Beziehung tritt.

Wie diese Beziehung auf der Suche nach ­Hilfe und Heilung gestaltet wird, mag sich indes immer wieder, gerade unter gesellschaftlichen, politischen und technologischen Veränderungen, grundlegend ändern. Der Wunsch nach kundiger Beratung und zeitgemäßer Behandlung bleibt zwar stets bestehen – die Erfüllungsstätten aber, an denen beraten, behandelt und bewirkt wird, werden sich, wie schon in der Vergangenheit, wandeln. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, wenn man sich die Geschichte der Heilberufe vergegenwärtigt: Auch wenn wir uns heute eine Welt ohne Krankenhäuser nicht mehr vorstellen mögen, bestehen sie in ihrer Form doch erst seit dem frühen Mittelalter, eingeführt durch theologisch-gesellschaftliche Veränderungen. Wenn für uns die Trennung zwischen Arztberuf und Apotheker zur Normalität gehört, entstand sie doch aufgrund eines politischen Prozesses, namentlich eines kaiserlichen Edikts. Und wenn wir uns vorstellen, dass das gängige Attribut des Arztberufs, das Stethoskop, bei seiner Einführung als technische Innovation nicht unumstritten war, wird klar, dass wir als Zukunftsblickende immer auch Kinder unserer Zeit sind und das Kommende immer unter dem Einfluss der gegenwärtigen Schwerkraft nur denken können, um ­Zukunftsschaffende zu werden.

Die Erkenntnisse von heute sind die ­Irrtümer von morgen

Von Ignaz Semmelweis gibt es die Geschichte, er habe sich mit dem Wiener Establishment angelegt. Heute ist er bekannt als der Retter der Mütter, damals galt er als provinzieller Parvenü, der sich mit seiner verrückten Idee, sich nach ­jedem Patientenkontakt die Hände zu waschen, nicht nur Freunde machte.

Was in Zeiten der Pandemie jedem Kind eingetrichtert wird, nämlich für ­ausreichende Hand­hygiene zu sorgen, war im Wien des 19. Jahrhunderts auch in aufgeklärten Mediziner­kreisen keine Selbstverständlichkeit, sondern wurde teils leidenschaftlich mit weniger wissenschaftlicher, sondern eher politischer Grundlage bekämpft. Zu Lebzeiten konnte sich ­Semmelweis nicht durchsetzen. Er hatte schlicht zu wenig, heute würde man sagen, akademisches ­Standing und war wohl auch politisch zu wenig vernetzt. Interessant an diesem Beispiel ist, dass das, was uns heute so unbedingt einleuchtend erscheint, damals eben nicht als Innovation, als Notwendigkeit im wörtlichen Sinne erkannt wurde.

Wir sollten das berücksichtigen, wenn wir uns über die Alten lustig machen, die doch so offensichtliche Dinge nicht erkennen konnten. Wir sollten das im Kopf haben, wenn wir behaupten, uns wäre das nicht geschehen. Wir hätten die Beatles entdeckt und Harry Potter und, wenn wir schon dabei sind, auch das Penicillin. Wir sind aber immer Kinder unserer Zeit – in Denkmustern und im Handeln. Im Geschäft und Umgang mit der Innovation ist es für jede Generation schwer, Hoaxes von Heilsbringern, Dämlichkeit von Disruption oder Wichtigtuer von Weltbewegern zu unterscheiden. Das liegt vor allem daran, dass die Innovation die Eigenschaft hat, sich nicht linear zu entwickeln, unsere Gehirne aber auf instabile und sich schnell verändernde Systeme mit komplexen Entscheidungsbäumen nicht vorbereitet sind. Unser Sinnen und unser Handeln laufen meist sehr linear, was auch der Grund ist, weshalb wir eine Feder im freien Fall nicht zu fangen vermögen.

Die Zukunft ist „the Future“

Die Zukunft geschieht, indem wir sie gestalten. Sie geschieht im Spiel, im Ausprobieren, im Staunen, Sichwundern und im Kindischsein. Wer die Zukunft allerdings kategorisieren und im Gewand der Strategie vorhersagbar machen möchte, ist meist Unternehmensberater. Die Tätigkeit gleicht der eines Schmetterlingssammlers, der katalogisiert, festlegt, einsperrt. Aber welches Kind wird sich mehr an toten Tieren erfreuen als an solchen, die wie frische Ideen herumfliegen. Wer sich hinter Worthülsen verbirgt, produziert Misstrauen, Angst und Ablehnung. Wenn für uns die Zukunft zu einem dystopischen Ort wird, an dem Dinge geschehen, die wir aus innerer Überzeugung nicht gutheißen können, dann werden wir sie ablehnen und damit auch all die, die uns in diese Zukunft bringen möchten.

Die Zukunft geschieht, indem wir sie gestalten. Sie geschieht im Spiel, im Ausprobieren, im ­Staunen, Sichwundern und im Kindischsein.

Wenn wir aber einen Weg wählen, auf dem wir die Menschen mitnehmen können, der nicht ­allein geprägt ist von Technophilie, dann werden wir mehr Chancen haben, den Nutzen dieser Veränderung begreifbar zu machen. Wenn uns klar ist, dass nicht der Mensch sich an die Technologie anpassen muss, sondern die Technologie in den Diensten des Menschen steht und dass diese Technologie zu begreifen und zu beherrschen nicht nur einigen wenigen möglich ist, dann kann das aufgeklärte Individuum selbst entscheiden. Begriffe müssen daher mit Inhalten gefüllt sein, um eine Wirkung zu entfalten, und über diese Inhalte muss gestritten werden. Es muss um Methoden und Definitionen gerungen werden in einer Zeit, in der so vieles geht. Wer wollte schon behaupten, vollends zu begreifen, was Telemedizin vermag? Wer könnte die Potenziale der künstlichen Intelligenz abschätzen? Wer ist in der Lage, Entscheidungen zu treffen bezüglich des Einsatzes von computergenerierten Biomarkern zur prädiktiven Analytik? Wer, wenn nicht die informierten Bürgerinnen und Bürger in einem demokratisch verfassten Gesellschaftssystem?

Healthcare is the new ­automotive und nur der Chirurg fürchtet die ­Nahtlosigkeit

Das Gesundheitswesen verändert sich nicht nur durch den Einsatz von Technologie, sondern auch dadurch, dass es für weitere Marktteilnehmer interessant wird, sich dort umzusehen. Das liegt zum einen daran, dass das Gesundheitswesen ein Wachstumsmarkt par ­excellence ist – man denke an den demografischen Wandel, das Verschwimmen von ­Selfcare und ­Healthcare und die große Lust der säkularen Gesellschaft, den Aufenthalt im Diesseits länger und angenehmer zu gestalten. Zum anderen aber ist es darin begründet, dass Technologie aus anderen Märkten in die Gesundheitssysteme drängt. Dabei spielen die ­Konsumenten eine wichtige Rolle für Unternehmen wie Audi, Adidas, ­Apple und Amazon, um nur beim Buchstaben A zu bleiben. Alle liebäugeln damit, die „User Journey“ auch in den Gesundheitsbereich auszudehnen, und alle bringen uns bei, wie ein digital nahtloses Konsumentendasein bereits funktioniert. Wir bestellen nicht nur Bücher online, obwohl wir wissen, dass dieses Verhalten den Einzelhandel trifft und Fußgängerzonen verwaisen, wir sammeln Gesundheitsdaten mit Armbanduhren und auf Armaturenbrettern, obwohl wir nicht ganz sicher sein können, was mit den Daten geschieht, und wir lassen uns per 3-D-Druck sensor­bewehrte Schuhe maßanpassen – ein Verhalten, das bei immer größerer Individualisierung zu einer starken Markenbindung führen wird. Was bedeutet das alles für die Medizin?

Wer gesund ist, ist nur noch nicht gründlich genug untersucht

Wir sehen neue Arten von Patienten in den Praxen und Krankenhäusern. Das sind zum einen die Selbstoptimierer, die sich auf eigene Kosten mit den neuesten Apps, Gadgets und ­Wearables ausstatten. Das sind die Menschen, die ihren Ärzten unaufgefordert Bilder ihres Stuhlgangs schicken, die über ihre Körperfunktionen bestens informiert sind und über ihre Vitalfunktionen digital Buch führen und ihre Social-Media-Community daran teilhaben lassen. Das sind die Patienten, die Spaß an der Technologie haben, Spaß am Ausprobieren. Quantified Self nennt man diese Lebenseinstellung, in der vor allem gilt, was messbar ist. Sie schafft manchmal Verdruss bei den Behandlern, da auf der anderen Seite die Fähigkeit, Daten korrekt zu interpretieren, häufig eher schlecht ausgeprägt ist. Man verlässt sich auf Gadgets, ­Google und Gemüse. Der Schritt zu der zweiten Neuerscheinung in der Patientenwelt, dem digitalen Hypochonder, ist recht kurz. Hierbei handelt es sich um Menschen, die erst einmal nur ausprobieren möchten, arrivierte Personen, die sich für 70 Dollar einen Gentest besorgen und ihr Leben nach den Erkenntnissen der Medizin ausrichten möchten. Oft sind das Personen mit einer bestehenden Grunderkrankung, die der primäre Anlass war, sich mit digitalen Geräten auseinanderzusetzen. Das Digitale dient als Frühwarnsystem und weniger zur Selbstoptimierung. Mit diesem Warnwissen ändert sich das Verhältnis zur Medizin. Sie erhält einen präventiveren Charakter auf der einen Seite, hat aber auch das Risiko einer ökonomischen Ausweitung durch das, was die Wirtschaftswissenschaftler als „angebotsinduzierte Nachfrage“ bezeichnen. „Ich nutze es, weil es einfach und da ist.“ Das ändert die Rolle der Ärztinnen als Gatekeeper des Gesundheitswesens und arbeitet an der Selbstwahrnehmung eines Berufs, der sich dadurch auszeichnet, dass er neben einer eigenen Gesetzgebung auch eine hochdifferenzierte Fachsprache entwickelt hat, um Unkundige fernzuhalten. Mit der Weiterentwicklung der digitalen Untersuchungsmethoden werden Patienten nicht digitale Außenseiter bleiben, sondern mit ihren Daten dazu beitragen, den Zeitraum vom Erstauftreten eines Symptoms bis zur Diagnostik der das Symptom auslösenden Erkrankung und der darauffolgenden Therapie entscheidend zu verkürzen. Die Behandlungsqualität wird dadurch zunehmen, aber sie kann das nur, wenn diese neue Form der Vor-Praxis-Medizin auch anschlussfähig ist an Ausbildung, Arztalltag und Abrechnungssystem. Hier könnten Apotheker eine entscheidende Rolle als „Digital ­Dealer“ finden und damit im Wettbewerb mit Online-Apotheken dennoch Patienten mit digitalen Angeboten an sich binden.

Das Digitale greift in unser Leben ein, indem es uns Informationen zugänglich macht, uns aber auch befähigt, eigene Schritte zu gehen und Technologie an unsere Bedürfnisse anzupassen.

#wecantwait

Technologische Entwicklung führt häufig zu einer Demokratisierung. Der Buchdruck demokratisierte den Zugang zu Wissen. Er machte die Reformation möglich, erleichterte aber auch die Verbreitung von auf Papier gedruckten Unwahrheiten. Insofern stehen wir 500 Jahre später mit unseren digitalen Medien der Renaissance in nichts nach. Noch immer bedarf es unseres Verstands, die Welt zu ordnen. Die Erfindung des Automotors demokratisierte die Mobilität, indem sie den Bewegungsradius der Menschen vergrößerte, und zwar, ohne ein Pferdegespann, einen Stall und einen Kutscher zu haben. Und so greift auch das Digitale in unser Leben ein, indem es uns Informationen zugänglich macht, uns aber auch befähigt, eigene Schritte zu gehen und Technologie so an unsere Bedürfnisse anzupassen, dass wir dadurch besser leben können. In der Medizin gilt lange schon der Grundsatz: Es gibt nur das, was erstattungsfähig ist. Erstattungsfähig ist, was zugelassen ist. Zugelassen wird es, indem es durch einen regulatorischen Prozess geht. Dieser Dreiklang führt zur Sicherheit von Anwendungen, erschwert aber innovative, agile und unkonventionelle Prozesse. Das ist ein Grund, warum Patientinnen das Heft des Handelns mittlerweile selbst in die Hand nehmen. Wir sehen bei chronischen Erkrankungen, wie Patienten „Fans ihrer Krankheit“ werden. Sie werden nicht nur Experten, sie werden zu Influencern, denn ihre Lösungen erreichen auf digitalem Weg eine Vielzahl an Menschen, die mit demselben Thema befasst sind. Es ist nicht verwunderlich, dass Menschen mit Diabetes Insulinpumpen auf digitalem Weg an Smartphones anbinden, auf denen ein Programm zur Glukose­regulation läuft, das seinerseits an ein Instrument zur kontinuierlichen Gewebeglukosemessung gekoppelt ist. Die „Looper“ schaffen Innovation aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit und umgehen damit die vorgegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen. Auch dieses Spannungsfeld aus Regulation auf der einen und innovativer, daten­getriebener Medizin auf der anderen Seite muss der Arztberuf aushalten.

In-algorithmo-diagnostics: Finde die goldene Nadel im Heuhaufen

Die datengetriebene Medizin verändert unser Bild vom Heilenden und unser Konzept vom Heilen. Es ist klar, dass wir unser medizinisches Handeln und Behandeln in der Tradition der westlichen Medizin nach der Aufklärung auf der Auswertung von Daten basieren. Wir suchen nach Evidenzen, die uns zeigen, dass Behandlungsmethoden nicht zufällig erfolgreich sind. Dazu haben wir eine große Werkzeugkiste an Methoden entwickelt. Die datengetriebene Medizin kann hier ein weiteres Instrument hinzufügen: Wir gehen davon aus, dass, wenn nur genug Daten vorliegen, wir in die Lage kommen, auch prädiktive Analyse zu betreiben. Die Zukunft vorherzusagen, ist ein alter Menschheitstraum. Eingeweideschau, Tarotkarten oder der Wetterbericht sind Zeugnisse dieser Versuche. Unsere Rechenmodelle, die aufgrund großer Rechnerleistungen nun möglich sind, interpretieren Daten und finden Zusammenhänge, die bislang unbekannt waren. Das liegt daran, dass ein Rechner nicht ermüdet, dass ein Algorithmus zunächst keine Vorurteile hat und Statistik per se unbestechlich ist.

Wir lassen unsere Computer nach Mustern ­suchen und stellen dann wissenschaftliche Fragen dazu.

Wir lassen unsere Computer nach Mustern suchen und stellen dann wissenschaftliche Fragen dazu. Liegt das Datenmuster an Zellrezeptoren, die bestimmte Abläufe erst ermöglichen, an der Genexpression oder etwas ganz anderem? Daten können uns in größeren Aggregatzuständen dabei helfen, bessere Entscheidungen zu treffen. Dazu müssen wir aber Energie in die Datenaufbereitung und -verarbeitung stecken, so wie wir in der Raffinerie Energie ins Öl stecken, um daraus höherwertigen Treibstoff zu machen. Nach ähnlichem Muster bereiten wir Daten zu Informationen und diese zu Wissen auf und suchen damit bestehende oder neu erhobene Datensätze ab auf der Suche nach der sprichwörtlichen goldenen Nadel. Wir sprechen hier vom Übergang der evidenz­basierten Medizin zur emergenzbasierten Medizin, also zu einer noch mehr durch Daten – und zwar Daten unterschiedlicher Güte und somit auch durch „Dirty Data“ – bestimmten Medizin, die sich mit Methoden der Datenwissenschaft neue Erkenntnisse verschaffen kann. Einer der Hauptunterschiede zu heute gebräuchlichen Prozessen ist die Tatsache, dass es sich hier um sehr große Datenmengen handelt. In diesem Zusammenhang gewinnen dann auch die Themenkomplexe (altruistische) Datenspende und körpernahe Sensorik weiter an Bedeutung: Sie stellen genau diese Agonisten einer datengetriebenen Medizin dar, die nötig werden, um beispielsweise Interventionen oder Medikamente nach deren Markteinführung schnell auf ihren Nutzen für den Patienten in der freien Wildbahn zu testen. Denn auch wenn diese Datenpunkte möglicherweise ungenau sind, so besticht doch der Gedanke, dass sie durch ihre schiere Menge auch Aussagekraft haben könnten.

Telemedizin ist mehr als ein Arzt an ­einem Computer

Insgesamt wird sich die Medizin wieder mehr zu den Orten, an denen die Menschen sind, hin verlegen. Das ist nicht nur der Pandemie geschuldet, die einen Arztbesuch nur unter Einschränkung möglich macht. Das liegt an zwei weiteren Punkten: zum einen der ­Convenience, also der Bequemlichkeit, mit der auf digitalem Weg Leistung in Anspruch genommen wird. Dieses digital verursachte Denken in einer Nahtlosigkeit der Nutzererfahrung wird sich auch in der Medizin zeigen. Es ist ja auch nur schwer vermittelbar, dass man zwar Pizzen, Bücher, Schuhe und Honigbienen online erwerben kann, jedoch das E-Rezept noch immer nicht flächendeckend eingeführt ist. Es liegt zum anderen aber auch am ökonomischen Prinzip, das klar sagt, dass Krankenhausaufenthalte schlicht teurer sind als ambulante Versorgung. Eine neue Form der ambulanten Versorgung wird die telemedizinische Anbindung von Patienten sein. Wir bezeichnen das als hospital@home. Körpernahe Sensorik greift wichtige Daten für eine Diagnostik und Triagierung am Ort des Geschehens ab. Damit können dann, gemäß vorher festgelegten Leitlinien und Entscheidungsbäumen, Krankenhauseinweisungen oder Arztbesuche gesteuert werden. Hierfür ist nicht einmal der Einsatz eines Menschen nötig, denn bereits heute beherrscht die künstliche Intelligenz solche Vorgänge. Aber die Telemedizin hat noch mehr Facetten.

Von der Ohnearzt-Praxis und der Arztpraxis der Zukunft

Telemedizin ist auch in der Lage, dort zum Einsatz zu kommen, wo es Versorgungsengpässe gibt. Das ist insbesondere auf dem Land der Fall. Medizinische Versorgung ist einer der bedeutendsten Faktoren zum Erhalt einer Gemeinde in einer ländlichen Region. Insbesondere Konzepte wie die Ohnearzt-Praxis ­richten sich an immobile Personen aus dem Dorf, die ihren eigenen Hausarzt zwar konsultieren möchten, denen jedoch bereits mit einem Online-­Termin in einer professionell ausgestatteten Praxis, die von einer MFA (Medizinische Fachangestellte) betreut wird, geholfen werden kann. Dieses „Praxis-as-a-Service-Modell“ deckt zunächst nur einfachere Indikationen ab, wie die Versorgung chronischer Ulcera oder die Nachkontrolle bestimmter Parameter von Patienten mit Bluthochdruck. Sie kann aber durchaus auch als Anlaufstelle für Menschen mit Diabetes dienen, die im Beisein einer professionellen Kraft und unter Verwendung professioneller Ausrüstung, die weit mehr kann als die Kamera eines Smartphones, die jeweilige telemedizinisch zugeschaltete Fachärztin bei der abschließenden Diagnosestellung unterstützt. Wer es dennoch vorzieht – oder wenn es medizinisch notwendig ist –, in die Arztpraxis des Hausarztes zu gehen, wird sehen, dass die Zukunft auch dort mancherorts bereits Einzug gehalten hat.

Wir gehen davon aus, dass etwa 60 Prozent aller Fälle, die in einer allgemeinmedizinischen Praxis gesehen werden, grundsätzlich auch gut – ggf. alternierend – über das Modell der Ohnearzt-­Praxis geführt werden könnten. Das bedeutet, dass der persönliche Kontakt zum Behandler durchaus mit telemedizinischen Vorstellungen abgewechselt werden kann. Somit könnten sich Praxisabläufe entzerren und Situationen in Sprech- und Wartezimmern entspannen. Insbesondere für chronische Erkrankungen bietet das Ohnearzt-Praxis-Modell einen neuen Freiraum: Es stützt das Arzt-Patienten-Beziehungsmodell und wertet gleichzeitig die Pflegenden auf, da sie Ohnearzt-Praxen betreiben können, wie einstmals Gemeindeschwestern Ähnliches taten, nur eben heute unter Zuhilfenahme digitaler Technologien. Schließlich führt es zum erleichterten und mehr auf den Patienten ausgerichteten Zugang zu medizinischen Dienstleistungen bei gleichzeitiger Stärkung lokaler Versorgungsstrukturen.

Machen ist das Neue Wollen – daher: alle Macht den Machern

Wenn wir das Arztpraxis-Erlebnis einmal ganz aus der Perspektive der Patienten betrachten, dann fällt zunächst auf, dass vielerorts die aus dem Konsumgut-Bereich bekannte User Experi­ence noch nicht im Mittelpunkt steht. Die Mess­para­meter sind Terminorganisation, Wartezeit, Zugewandtheit des Arztes, Verständlichkeit ­seiner Aussagen, Eingehen auf Fragen. Wenn wir all dies berücksichtigen, dann haben wir vor uns eine Praxis mit geregelter ­Praxisorganisation, die Patienten so einbestellt und führt, dass die Wartezeit vernachlässigbar ist. Wir stellen uns eine Praxis vor, bei der die Befund­erhebung bereits vor dem Sprechzimmer, ja noch vor dem eigentlichen Besuch stattfindet: Wearables sammeln medizinische Daten und teilen diese mit vom Patienten autorisierten Personengruppen, z. B. Apothekern, Ärzten, Tätigen in Pflegeeinrichtungen und Angehörigen.

Wir stellen uns eine Praxis vor, bei der die Befunderhebung bereits vor dem Sprechzimmer, ja noch vor dem eigentlichen Besuch stattfindet.

Das eigentliche Sprechzimmer macht seinem Namen alle Ehre. Es wird darin gesprochen und nicht mehr getippt. Damit nicht auch nur ein unnötiges Technologiegerät die Beziehung zwischen Arzt und Patient stört, wird es dort keinen Computer mehr geben. Es wird eine Aufzeichnung und Steuerung über Stimm­erkennung stattfinden. Während der Arzt die Untersuchung durchführt, spricht er mit dem Patienten, er wendet sich ihm direkt und persönlich zu. Diese Informationen werden auch vom Praxisinformationsprogramm aufgenommen und ausgewertet. Im Nachgang erhält der Arzt dann Vorschläge zur Dokumentation und Abrechnung, die er per Swipe-Menü annehmen oder verwerfen kann. Für den Patienten wird das Gespräch nachvollziehbar, da es automatisch editiert wird und für ein erneutes Abhören in der eigenen Häuslichkeit zugänglich ist. Die Besprechung zwischen Arzt und Patient kann noch einmal in allen Schritten nachvollzogen werden. Einnahmeanweisungen für Medikamente können besser aufgenommen werden und bei Fragen findet der Patient ersten Anschluss im geführten Gespräch. Dies sorgt auch für Transparenz und Vergleichbarkeit und könnte mit Ansichten zur Vertraulichkeit der Arzt-Patienten-Beziehung kollidieren. Insofern muss hier eine Güterabwägung stattfinden, die die Vor- und Nachteile berücksichtigt.

Ohnearzt und doch nicht ohne Arzt

Das Vertrauen des Patienten liegt beim behandelnden Arzt. Er ist die Person, an die sich der Patient zuerst wendet. Wir sehen, dass auch hier Bewegung ist und Patienten häufig mit einer eigenen Diagnose-Recherche bei Dr. ­Google in das Gespräch mit ihrem Behandler gehen. Das mag zunächst unangenehm sein für den Mediziner, der sich herausgefordert fühlt, der eine narzisstische Kränkung empfindet oder der sich dem Sachverhalt mit professioneller Distanz nähern kann. Wie kommt es durch die digitalen Medien nur dazu, dass sich anscheinend die Informationsasymmetrie verschieben kann? Dieser Wandel scheint aber viel mehr vom Patienten für sich selbst stattzufinden als gegen den Arzt und dessen Autorität. Patienten und Ärzte sind auch in einer digitalen Zeit auf ein Miteinander angewiesen, das noch viel intensiver und menschlich näher, demnach auch beziehungsreicher sein kann, als es vormals war: Die Barriere in Form von technischem Gerät fehlt im sichtbaren Raum. Und das ist sinnvoll, denn die Technologie muss sich dem Menschen anpassen und nicht umgekehrt. In dem Maße, in dem die Technologie hinter Wandverkleidungen und in Miniaturisierung verschwindet, jedoch immer mehr ubiquitär kryptopräsent ist, wird auch der persönliche Kontakt als fundamentaler Beziehungsanker wieder wichtiger werden. Das ist aber auch weder ­verwunderlich noch ­zurückzuweisen, denn als menschliche Wesen liegt unsere Stärke im Aufnehmen, Führen und Gestalten von Beziehung. Wir sind von unserer Natur aus auf ein Gegenüber ausgerichtet, das mehr ist als ein 15-Zoll-Flachbildschirm. Der gelungene Arzt-Patienten-Kontakt wird demnach auch in der Arztpraxis der Zukunft ein menschlicher, ja sogar ein viel näherer Kontakt sein. So paradox es klingen mag: Die digitale Veränderung hat gute Chancen, die sprechende Medizin wieder in den Mittelpunkt zu befördern, denn das empathische Herstellen einer Beziehung zwischen zwei Menschen ist (noch) nicht eine Kernkompetenz der künstlichen Intelligenz. Dennoch werden wir in einer nahen Zukunft beides brauchen: digitale auf der einen und menschliche Kompetenz auf der anderen Seite. Das Erstere muss im Studium bereits thematisiert werden und das andere sollte man bestenfalls bereits von zu Hause mitbekommen haben. Die Zukunft wird eine Verbindung aus unterschiedlichen Kompetenzen sehen und neuen Prozessen, wie das ko-kreative Erarbeiten von Lösungen in einer Gruppe von Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen, und zwar über die Disziplinen und Rollen hinweg. Wir bezeichnen das letzten Endes als Hackathon, da dort auf kreative und unkonventionelle Weise (Hacking) Probleme, die vorher definiert wurden, mit einer sehr heterogenen Gruppe über einen definierten, längeren Zeitraum (athon von Mar-athon) angegangen werden. In diese Prozesse werden sich idealerweise alle Akteure auf der Wertschöpfungskette einbringen, um an der Umsetzung der Ideen mitzuarbeiten, an den Lösungen teilzuhaben und damit ein wenig weiter an der Zukunft zu bauen. Denn in der Medizin herrscht ein hoher Nachholbedarf an Ergonomie, Usability und Konsumentenzentriertheit.

Der gelungene Arzt-­Patienten-Kontakt wird auch in der Arztpraxis der Zukunft ein menschlicher, ja sogar ein viel näherer Kontakt sein.

Um die Zukunft zu gestalten, muss man sie ausprobieren

Die Zukunft beschreibt also, wer das Bleibende als Grundlage für das Kommende nimmt und das sich Verändernde mit all seiner Unvorhersagbarkeit als Möglichkeitsraum mutig daraufsetzt. Im Gegensatz zur Science-Fiction ist dieser Ansatz dann zwar weniger schillernd, weniger disruptiv und viel eher konservativ, aber vielleicht auch näher an einer Zukunft, auf die wir uns als Ziel verständigen, auf die wir uns einlassen und an der wir gemeinsam arbeiten können. Denn die Zukunft gestaltet nur, wer sie ausprobiert.


Literaturempfehlungen:

  1. Borgman CL: Big data, little data, no data: scholarship in the networked world. MIT Press, Cambridge (MA), 2015
  2. Christensen MC: Innovator’s prescription: a disruptive solution for health care. McGraw-Hill, New York, 2008
  3. Christensen MC, Anthony SD, Roth EA: Seeing what’s next: using the theories of innovation to predict industry change. Harvard Business Review Press, 2014
  4. Diamandis PH, Kotler S: The future is faster than you think: how converging technologies are transforming business, industries, and our lives. Simon & Schuster, 2020
  5. Wuketits FM: Außenseiter in der Wissenschaft: ­Pioniere – Wegweiser – Reformer. Springer Spektrum, 2015
  6. Gold H, Hornung A, Kuni V, Nowak T (Hrsg.): DIY – Die Mitmach-Revolution. Ventil, Mainz, 2011
  7. Kucklick C: Die granulare Gesellschaft: Wie das Digitale unsere Wirklichkeit auflöst. Ullstein, Berlin, 2014
  8. Kvedar JC: The internet of healthy things. Partners Connected Health, Boston, 2016
  9. Lanier J: Who owns the Future? Simon & Schuster, 2013
  10. Meyers AM: Happy accidents: serendipity in major medical breakthroughs in the twentieth century. Arcade, New York, 2011
  11. North R: How to invent everything: rebuild all of civilization (with 96 % fewer catastrophes this time). Virgin Books, London, 2018
  12. Rowe P: Statistik für Mediziner und Pharmazeuten. Wiley-VCH, Weinheim, 2012
  13. Tetlock P, Gardner D: Superforecasting. The art and science of prediction. Crown, New York, 2015
  14. Topol E: Deep medicine: how artificial intelligence can make healthcare human again. Basic Books, New York, 2019

Autor:

Dr. Tobias D. Gantner, MBA, LL. M.
HealthCare Futurists GmbH, Stadtwaldgürtel 13, 50935 Köln